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Lower Omo Valley

Samstag, 02.02.2013

Wo ist joda?

„Seulam!“, „Deuna Neuh?“, „Samah man no?“, hunderte von Menschen tummeln sich auf dem wirren Markt in Jinka im Lower Omo Valley, während wir über den knallevollen Platz streifen. Blaue Plastikfolien spannen sich über einzelne Stände, Zwiebelhaufen werden aufgetürmt, ein paar Holzhüttchen sammeln sich am Rande, wir sind ein bisschen früh um 10 Uhr, die meisten Stämme brechen mitternachts auf, um den langen Weg von ihren Dörfern hierher zu schaffen. „Hallo!“, „Wie geht´s“, „Wie ist dein Name“, das ist alles, was ich dank dem Übersetzungsteil im Lonely Planet vom äthiopischen Amhara verstehen kann.

Gerade könnte ich auch auch auf dem wurligen Set eines „Star Wars“- Films stehen, ich warte nur auf die Klappe mit „Action!“ und den grünen Joda, doch beide glänzen mit Abwesenheit. Stattdessen fettes Durcheinander, krasse Outfits, ambivalente Styles, Kreativ-Make-ups, geritzte Schönheitsnarben, gelbe Hyänen-Tupfen, weisse Kalkmasken. Die Menschen laufen gemächlich herum, manche tragen schillernde Straussenfedern auf dem Kopf, andere orange Farbe auf Wangenknochen, rote Bänder über der Stirn, klirrende Ringe, Eisenreife, Perlketten.

Teilrasierte Haare, blanke Schädel, Irokesen, riesige Ohrlöcher, famose Lippenplatten, Hörner die aus Wangen ragen und auf Köpfen prangen, Stäbe, die im Kinn stecken, Ringe in Nasen, Knubbel über Zähnen, Lenden sind mit knappen Röcken aus bunten Tüchern oder neckisch wippenden Kuhfellen umwickelt. Ziegen, Schafe, Rinder, Pferde und Esel wiehern und mähen, fressen und schnaufen, hauen aus, treiben sich herum, klauen hier und da, werden vom einen zum anderen gescheucht, am Halfter hinterhergezogen, ins Maul geschaut, verkauft, gehandelt, gestiefelt, getreten. Buntes Treiben, da zupft mich jemand grob am Rocksaum, prompt drehe ich mich um und blicke ins zahnlose Gesicht einer verrunzelten Alten mit Stock und großer Lippenplatte.

Sie gehört zum Stamm der Mursi, nur hier und einzigartig in ihrer Tradition auf der Welt. Nur noch um die 8000 Menschen von ihnen leben zwischen den Lower Lama Plains und den Mursi Hills im Mago Nationalpark. Morgen werden wir ein Village ansehen, doch schon heute versammeln sie sich auf dem Markt, um zu verkaufen. Lala, unser neuerkorener Guide, den wir im Zentrum irgendwie aufgegabelt haben, dolmetscht und erklärt uns einige Dinge zur Ethnologie. Die enormen, bis zu 10 Zentimeter großen Lippenplatten sind aus Holz oder Ton gefertigt und werden in die geweiteten Lippen eingesetzt. Stolz, damit als Frau angesehen zu werden, lassen sich die kleinen Mädchen schon in frühem Alter einen Schnitt unterhalb der unteren Lippe setzen, ein kleines Holzstäbchen wird eingesetzt und Stück für Stück, Jahr für Jahr wird die Lippe gedehnt, bis die großen Platten Platz darin finden. Je größer, umso schöner. Die Platten werden getragen, die Attraktivität zu steigern und traditionell hauptsächlich zu vier Gelegenheiten eingesetzt: um Männern Essen zu servieren, während ritueller Feste, bei Duell-Kämpfen und Tänzen. Unverheiratete Frauen setzen die Lippenplatten allerdings auch meistens ein, wenn sie ausströmen, zum Wasser holen, Essen kaufen oder Freunde besuchen. Das Lip-Plate gibt den Mädchen eine neue Identität, zum Zeichen für sexuelle Reife und Fruchtbarkeit. Im Beauty-Case einer jeden Mursi liegen so auch um die vier Plättchen bereit: ein Rotes, Rotbraunes, Schwarzes und ein Beige-farbenes.

Ein Mursi-Mädchen trägt das Lipplate am häufigsten während der Pubertät, und in der frischvermählten Phase, als Zeichen ihrer Verbindung zur Stammes-Tradition und als Band zu ihrem Ehemann. Der etwas andere Ring. Stirbt ihr Mann, wirft sie das Ding so weit weg wie irgend möglich und selbst wenn sie von einem Bruder des verstorbenen Mannes zur zweit-dritt-oder viert-Frau genommen wird, wird sie höchstwarscheinlich kein Lipplate tragen, es sei denn sie ist sehr jung und hat noch keine Kinder.

„Hello! - Picture!“, aggressiv steht die Mursi-Frau mit Stock jetzt vor mir, der Lippenbogen wabbert dickwurmig über ihrem Kinn. „YOU! Picture! - You must take! YOU!“, und sie stößt mir ihre offene stahlharte Hand in den Unterbauch. „YOU! 10 Birr!“, das sind so um die 50 Cent, die sie dafür will, doch mit dieser brutalen Anti-Manier drehe ich mich rüde um, betone laut „YOU! NO. Thank you!“, und wandle weiter über den quirligen Markt. Auf erstaunlich vielen Frauenrücken sehe ich tiefe, dicke Narben, die schon beim ansehen weh tun. Später erklärt mir das Museum der Stadt die Häufigkeit: die Kultur verlangt es, dass sich Mädchen für ihre Brüder und Söhne auspeitschen lassen. Je mehr Striemen, desto besser, je tiefer die Narben, umso stolzer die Herrin.

Es sind die Hamer (50.000 Leute) und Banna (ca. 45.000), die die „Jumping Bulls“- Zeremonie veranstalten. Dabei werden die Jungs zu Männern, indem sie ihren Mut beweisen und nackt über 15-30 Bullen springen, die aufgereiht vor ihnen stehen. Wenn sie fallen, werden sie ausgepeitscht und von allen ausgelacht – und müssen das Ganze drei mal erneut durchführen! Während der Zeremonie betteln die weiblichen Angehörigen der Jungen um die Peitsche! Je tiefer die Wunden, je schlimmer die Schläge, umso mehr lieben sie ihre Boys!

Gewalt scheint ein großer Teil der Kultur hier zu sein, lese ich im Museum, oben am Berg. Für 10 Birr nehmen wir ein Motortaxi und sind in schnellen zehn Minuten auch schon da. Neben Schaukasten mit Kleidung und Schuhen, Haushaltsgeräten und Waffen gibt es viele Bilder und Erklärungen zur Kultur. Und immer wieder sind Hiebe an der Tagesordnung: Jungen werden von den Vätern geschlagen (damit sie auch richtig auf das Vieh aufpassen), Frauen von ihren Männern (wenn sie nicht gefügig sind).

Männer hauen sich zum Ausgleich allerdings auch gern mal gegenseitig auf die Fresse, mit Stöcken beim gegenseitigen „Freundschafts-Schliessen“ zum Beispiel und machen sich auch selbst Aua, wenn sie ein große Tiere wie Büffel, Hippos oder Löwen töten konnten. Danach werden die reizendsten Straussenfedern die der Markt hergibt in die Haare geflochten (mann schläft auf speziellen Holz-Kopfstützen, damit der Style bis zu 6 Monaten hält), dann ritzt man sich selbst ein paar Streifen in die Wange, bestreut das Ganze dick mit Asche und wartet, bis sich schöne Wülste bilden. Bei den Hamar haben die Ohrringe auch eine besondere Bedeutung: sie zeigen die Anzahl ihrer Frauen an!

Die Mädels wiederum reiben sich roten Ocker (á la Himba) in Haare und Haut, das hält geschmeidig, schützt und glänzt so toll, ausserdem sind opulente Eisen-Arm- und Halsbänder der letzte Schrei, die wiederum den Reichtum und das Prestige ihrer Ehemänner anzeigen. Unverheiratete Mädchen tragen ausserdem eine Eisenplatte im Haar, nach der Hochzeit wird aber der Schmuck abgelegt und als Mitgift für die neue Familie abgegeben. Die Banna dürfen sich nach dem Töten eines Büffel weisse Tonerde ins Gesicht schmieren und dann wird eine deftige All-you-can-Eat-Party geschmissen.

Dann gibt’s in der Gegend auch noch die Ari, mit 120.000 Leuten ziemlich gut vertreten, die hauptsächlich von Viehwirtschaft leben. Bei ihnen kann man am Finger ablesen, was Beziehungstechnisch so los ist: Ring am kleinen Finger - keine Beziehung, Ringfinger – verlobt, Mittelfinger – verheiratet. Wenn nach erfolgreichem Eheleben ein Baby auf die Welt kommt, wird bis zum dritten Monat gewartet und dann kommen die Großeltern ins Spiel. Rohes pudriges Mehl rinnt in des Baby´s Mündchen! Anschliessend wird dem Piepmatz ein Blättchen vom K´olcho-Baum um den Hals gewickelt, Porridge gefüttert und dann ruft man synchron im Stamm: „A new person has joined us! We have become more!“. Vorher darf die Mutter keinen Besuch empfangen - keiner darf mit dem Baby spielen oder Gutzi-Gutzi machen. Das Omo-Museum am Berg ist sehr interessant, hier einige aufschlussreiche Zitate aus aufgezeichneten Gesprächen unterschiedlichster Stammesfrauen:

- Über clevere und dumme Frauen: „A stupid woman is...who stays home all day, but lets the fire go out and does not fetch water, a woman who does not work properly, is a lazy woman! She wants her husband to go mad! A smart woman works so well, so there is not reason to quarrel, a woman should always prepare coffee and food before her husband comes home“, sagt die stolze Ari-Frau. „In Kara the same" erwidert ein Mädchen von dort „...a good woman will always have a pot of water on the fire, when her husband goes away, from the first day on she will have everything prepared as her husband might come anytime“. Und die Nachbarin stimmt nickende bei: „We do it the same way...when our husband leaves, we grind flour, gather firewood and store it. You serve him good food. Thats the way“.

- Über Schönheit und Eitelkeit: „A proud woman wears nice beads, and a nice leather skirt. Some woman have bad skirts, no beads, no bracelets. Those are the lazy ones!“, gibt eine 20-jährige zu bedenken.“That is true! Some do not care about their looks! Even if they have butter, they do not butter their hair or skirts. Their front skirt is stiff and sticks up by itself! When this woman stands up one can see her vagina!" empört sich die Stammesfrau. „If I take care of myself, people will talk well about me, they will like me..and also, when my friends will go and let their front teeth pulled, and I don´t they will tease me“.„Yes," bestätigt Galta nebenan, „you are considered to be strong and proud, if you have your teeth pulled and your scars cut“. - Das Hamar-Mädchen betont: „Also the whipping scars are a matter of tradition. If she has no deep scars, people will say: Didn´t she let herself beaten for her brothers? What kind of girl is that?“ und die Maale-Frau bestätigt: „The permanent tatoos in Maale are done, when the girl was having her first menstruation, a girl has to be very strong to get all three tattoos on the forehead, nose and chin.“ (PS nun wissen wir, woher die Drachenlady von der Embassy ist...)

-
Über Haushaltspflichten: „I am the one who prepares the food for my brothers, for my father, for my mother, for everybody. I do most of the household work“, sagt Arti, ein 12-jähriges Mädchen aus Bashada. „If I do not work properly, my brothers will beat me. That is how we learn to work well in Bashada“. Daraufhin erwidert Galte, eine 14-Jährige aus Kara: „I do not cook. My mother does it. I only grind and fetch water. The Kara-Mother says: As long as my daughter lives with me, she shall not work hard, she shall save her strength for her husband“, was Arti ein bisschen ärgert, und sie fügt hinzu: „I don´t like the Kara way. You are spoiled! If I were Kara, I would just lie around the whole day and my back would start to hurt!“. „In Bashada, the guests watch the girls. If a girl works well, they will say: „My son shall marry her! If a girl is lazy and just sits around, they will say: the food this girld has prepared does not taste good. Her mother has given birth to a lyzy, stupid girl. Our girls know how to work so when they move to their husbands they know everything and they won´t be beaten much by her husbands“. Torgo rettet die Ehre: „In Kara the men don´t look at our work, they like our bodies!“.

Und über die immer noch angewandte Beschneidung: „Nowadays they cut less than in former times, but it is still a lot. If you were cut, you stay inside the house for two months. As a girl, you want to have it done, because it is your tradition, everybody has it.“, „Yes“, schmeisst das andere Mädchen ein, „You will be considered a wild animal, if you are not cut!“, „The clitoris must be removed, becaus, we say, it is something male. To become a woman you have to cut off the clitoris.“

- Über Hochzeiten und Eheleben: „There are three different ways to get married. First: negotiation of the parents. Second: when they fall in love. Third: the girl is promised a very young age.“ - „While you are a bride, you don´t talk too much with your husband. You are shy. But after you have given birth to the one, two or three childs, you get used to each other and you start to talk.“ - „Same in Bashada“, sagt das nächste Mädchen, „Only after giving birth I will address my husband directly. Whenever my husband comes back, I walk towards him and relief him of his rifle and machete and sandals. He gives me a hard time by forcefully standing on the ground so that I can hardly pull the sandals off. Then I go and lay out the cowhide for him. I serve him coffee. When I hand it to him he will not take the bowl. My arm has nearly fallen off until he finally accepts the coffee. As a bride you suffer a lot!“, „Same in Kara“, so Galte , „Your husband makes you suffer. He beats you with his whip, and the other woman will be jealous, if one is beaten less, than the other. Then the elders will decide, if that it true. All woman should be treated the same. But the first woman always has the best life!“
(Gespräch und Infos aufgezeichnet im anschaulichen South Omo Museum and Research Center, Eintritt 25 Birr/1 Euro)

Vom Markt über das Museum bis nach Hause zum Camp schleppe ich nun eine schwere Basttasche für 10 Birr (50 Cent), prall gefüllt mit Papaya (5 Birr), Ananas (10 Birr), Bananen (6 Stück für 5 Birr) und Zwiebeln (ein Stapel für 5 Birr) – leider war die Suche nach Zucker erfolglos, laut Lala „No sugar in town! Maybe next month...“. Im Restaurant ums Eck bestellen wir einen kleinen Café und werden überrascht mit extrem starkem Espresso in kleiner buntbemalter Porzellantasse und einem schwimmenden Gewürzstäbchen. Wir kommen einfach nicht drauf, was es sein könnte, Lala sagt, es ist „Rue“, kein Mensch kann uns das auf deutsch erklären, auch kein Ipod-Translater. Jedenfalls sieht das Kräuterding stark nach Rosmarin aus, riecht aber wie Myrrhe und Minze zusammen. Egal, jedenfalls lecker – und offensichtlich antibiotisch für den Bauch, sagt jedenfalls Lala.

Anschliessend gibt’s ein obligatorisches „Enjera“, das traditionelle Ein-Zentimeter-dicke Fladenstück in Tischtuchgröße, in das man die jeweilige Sauce eintaucht. Hausgemacht aus äthiopisch endemischem Getreide, fermentiert in drei Tagen und danach in der Pfanne rausgebacken. Wir wählen die von vier verschiedenen Quellen empfohlene „Doro Wote“-Sauce, rot, mit Berbery-Pepper gewürzt und angereichert mit gekochtem Ei und Hühnchen. Also Schenkel, der drin rudert. Auf den ersten Blick sieht´s aus wie Durchfall nach Tomaten-Pesto auf altem Waschlappen, beim überwundenen Bissen ist es dann eher so lálá. Das Enjera supersauer und porös, die Sauce tröpfelt durch, irgendwie nicht so mein Ding jetzt. Zum Dessert reicht Lala uns einen Papaya-Avocado-Smoothie, drüber geträufelte Zitrone. Der wiederum mundet extrem lecker, klasse und bombig interessant.

Mursi Village, nahe Jinka

Sonntag, 03.02.2013

Einmal und nie wieder

„You-you-you! Five-five-five!“, „Foto!“, „Five!“, „Foto! Foto!“, „You! You! You!“, helles super-hysterisches Kreischen ertönt, als wir aus dem Auto steigen. Wir haben uns dazu entschlossen, ein Mursi-Dorf in den hohen äthiopischen Bergen zu besuchen. Grober Fehler! Schrecklich ist noch fürchterlich untertrieben.

Sofort bei unserer Ankunft werden alle Arbeiten wie Mais stampfen, Feldarbeit und Feuer machen eingestellt, eine Horde Menschen läuft heran. Die Kinder sind am schnellsten und sogleich bauen sie sich vor uns auf. Die Lippenplatten werden hektisch eingesetzt, gelbe Früchte auf den Haaren zurechtgerückt, Bastkörbe auf Köpfen verteilt und Babies illustrativ zur Brust genommen. Das alles unterbrochen von mega-aggressivem „YOU! Foto! Foto! Foto! YOU!“, sie drängen sich zwischen Georg und mich, zupfen derb am Arm, wollen meine Armbänder haben, reissen daran und zeigen mit dem Finger auf sich. „YOU! Give me!". Dann wieder das irr kreischende „Foto! FOTO!!! Five!“, fünf Birr (20 Cent) ist der allgemeine Kurs für ein Foto, Kind und auch Frau. Ich fotografiere eine Mama mit abrasiertem Schädel und einer zehn Zentimeter großen Lippenplatte, an ihrere Brust baumelt ein Baby mit kahlem Kopf, nur ein vier mal vier Zentimeter großes Stück Haarbüschel ist von der Rasur verschont geblieben. „Damit Gott den Kleinen daran in den Himmel heben kann“, erklärt mir Lala, der immer noch an unserer Seite ist. Und schon geht die Kneipen-Schubserei weiter. Das Village-Anti-Vergnügen ist noch dazu recht teuer. Erst muss man im Info-Center der Stadt Jinka den Eintritt von 200 Birr bezahlen (das bekommt der Village-Chief), dann gilt es, die Nationalpark-Gebühr am Gate zu entrichten (750Birr - 2Personen, 1 Auto), dann braucht man einen bewaffneten Ranger, der zum Schutz mitkommen muss (für unseren?), und zum Schluss müssen wir noch Lala entlohnen plus sein gemietetes Motorrad inklusive Sprit ($ 30).

Und nun treten uns die Mursi fast die Schädel ein, so aggressiv ist ihre Methode. Nach dem Mama-Baby-Foto stecke ich die Kamera weg, reiche die fünf Birr rüber, da wird sie richtig motzig und schreit mich an: „SEVEN! Seven! Seven! Me AND BABY!!“. Bisher dachte ich, die einzigen Worte, die hier gesprochen werden, sind „Five!“, „Foto!“, und „You“, aber offensichtlich gibt’s noch andere. Zum Beispiel „No!“, auf einen etwas älteren Schein, den ich erst gestern im Cafe als Wechselgeld bekommen habe. Die Mursi weigern sich, ihn anzunehmen, und ich werde böse hin und hergeschubst, jeder will das Model sein – sie schleichen sich in den Hintergrund eines Fotos von einer am ganzen Körper mit Kalkfarbe bemalten Frau, und laufen dann zu mir und wollen, na, was wohl: „YOU! Five! You! Foto! Five! FIVE!“. „Me on foto! Also me. MEEHEEEE!!“. Ganz schnell reicht es uns, aber so richtig. Ich kann es nicht mehr haben, zwanzig Kinder um mich herum, die Frauen treten die Kinder weg, die Männer heben die Stöcke, sie alle wollen als Model Geld verdienen.

Meine Arme sind zerkratzt, mein Rock zerfledert, sie wollen meine Schuhe (!), „YOU! Give-me-my-shoes! YOU-GIVE-MEHEEE!!!“, ein Mädchen zieht meinen T-Shirt-Ausschnitt grob herunter und will meine Brüste sehen, ein Anderes greift mir in die Haare, reisst mir ein helles Haar aus und lacht sich halbtot. Das ist der Moment, in dem ich fast ausraste. Ich stecke die Kamera weg, bringe sie zum Auto, alle folgen. „YOU! FOTO! Foto-Foto-Fotoooh!“, ich sage „NO! No more!“, zeige ihnen, dass der Apparat nun weg ist und beschliesse mit „FINISH!“.

BALE MOUNTAINS NATIONALPARK

Dienstag, 05.02.2013

Allein unter WÖlfen

Elegant und langbeinig steht er vor uns. Orange-rotes Fell, lange Nase, spitze Ohren, auf der Brust leuchtet ein weisser Fleck. Sein buschiger Schwanz erinnert an den europäischen Fuchs, tuffig, erst beige, dann grau und am Ende schwarz (nur ohne weisses Spitzchen). Der wirklich gutaussehende Ethiopian Wolf stellt sich vor.

Eine vom Aussterben bedrohte Rasse, es traben nur noch 250 Tiere davon in der Natur herum, und die leben ausschließlich in Äthiopien. Die meisten tummeln sich hier im Hochplateau der Bale Mountains, ein kläglicher Rest nennt die Simien Mountains ihre Heimat. Leider grassierte im letzten Jahr die verheerende Tollwut, was weitere 50 Schönheiten dahinraffte.

„Uuuuuuhh, uuuuuhh“, direkt vor unseren Augen heulen zwei von ihnen inmitten der kargen Umgebung auf 4400 Metern Höhe im Sanetti Plateau, dem höchsten Punkt im südlichen Äthiopien. Wind brennt mir in den Augen, die Sonne ist unerbittlich – dafür ist die Luft klar, nur ein paar kleine scharf umzeichnete Wölkchen tummeln sich am Himmel. Der Bale Mountains Nationalpark erstreckt sich über 2400 Quadratmeter, wie uns der Ranger erklärt. Für 40 Birr campen wir im Park, Eintritt beläuft sich auf 90 Birr, der Guide will 170. Doch wir sind froh ihn mit an Board zu haben, denn Kamal ist lustig, hilfsbereit, auskunftsfreudig und weiss jede Menge. Im Übrigen haben wir bisher (abzüglich der Mursi) ausschliesslich ultranette, sympathische und freundliche Äthiopier getroffen, immer ein Späßchen auf den Lippen. Lediglich manche Kinder nerven mit arger Bettelei, wilden „Money!“, „Caramells!“, „Highland!“ (Wasser), „Pen!“, „Lighter“- Schreien und anschliessendem Stein-Hagel aufs Auto! Doch zurück zum netten Kamal und dem wunderschön kargen, einsamen Bale Nationalpark.

Hier und da blühen sogenannte Afro-Alpine Pflanzen, hier ein paar kokette „Everlasting Flowers“, kleine, struppige silberne Blüten, die schon fast an Trockenblumen erinnern, dort fröhliche buttergelbe Blümchen und an Yucca-Palmen ähnliche Gewächse, die „Lobelia´s“ heissen. Ansonsten graugrünes Gestrüpp, kahle graue Felsen, leichte Moorlandschaft und schroffe Bergketten. Die Wölfe jaulen, spielen, dann sehen wir, wie sich drei Neuankömmlinge heranpirschen. Die Fünf kommunizieren lautstark, urplötzlich stoben sie synchron auseinander - und dann erblicken wir den panisch hoppelnden Hasen...

Der äthiopische Wolf ist ein soziales Tier, tagaktiv und meist im Rudel mit bis zu 13 Brüdern und Schwestern unterwegs, dabei extrem territorial und familienorientiert. Erblicken Babies das Licht der Welt, kümmert sich die gesamte Truppe um den Nachwuchs, zwei bis sechs an der Zahl. Kleine Mäuse und Ratten erlegt der Wolf allein, doch für größere Beute jagt man gern in der Gruppe, diesmal leider nicht sehr erfolgreich. Egal, ich bin eh auf des Hasens Seite.

Ein wunderhübsches Nyala mit weissem Eyeliner hüpft hervor und erschrickt heftig vor dem Rudel. Wir setzen uns, sind die Einzigen mit Kamal und den Wölfen weit und breit und beobachten die große Spielwiese. Insgesamt können wir in den paar Stunden neun Tiere sichten, was von den verbliebenen 200 der Weltpopulation ja mal gar nicht schlecht ist.

ADDIS ABABA

Donnerstag, 07.02.2013

Lucy, Ladas, Moscheen & Food-Sagas

Nach drei Stunden und ebensoviel Räumen im Immigration-Gebäude im Herzen Addis Ababas haben wir es geschafft: mittels biometrischem Gesichts-Vermessen (ohne Dragon-Lady) und generell höchstem Technik-Standard inklusive Scan-barem Strichcode halten wir stolz unsere Reisepässe in der Hand: mit verlängertem Äthiopien-Visum und einem grottigen Bild von uns.

Gestern abgegeben, 20 Dollar bezahlt, Kopie vom Reisepass & dem alten Visum beigefügt, können wir die Dinger nach 15 Stunden wieder in Room Number 90 abgreifen. Mit dem Taxi geht’s anschliessend für 70 Birr (3 Euro) ins anschauliche Nationalmuseum ( 10 Birr/ 40 Cent), das eine Ausstellung zu Lucy zeigt: eine unserer Vorfahren lebte vor ca. 3,2 Millionen Jahren hier, als statt trockener Wüste üppiger Dschungel im Hochland Ähtiopiens wuchs. Ausserdem gibt’s einen Video-Film zu Ausgrabungen, Schaukästen mit Bildern und Zähnen bezüglich der Entwicklung von Affe zu Mensch und einige Uralt-Münzen, Vasen, Alltagsgegenstände und Kleidung von damals zu sehen.

Um die Saga vom besten Food Afrika´s zu bestätigen (und das Enjera-Erlebnis auszugleichen), machen wir uns zwischen lauten Muezzin-Gesängen ans Test-Essen ran. Als Erstes gibt’s ein Fischgericht für mich und Hühnchen-Curry für Georg (jew. 75 Birr/ 3 Euro) im Lucy Gazebo & Restaurant, das gleich neben dem Museum liegt. Ein frischer Erdbeer-Fruchtshake für einen schlappen Euro rundet das Menü ab, das St. George-Bier schmeckt dem Namensgeber hervorragend und ist mit 12 Birr (50 Cent) ebenfalls sehr erschwinglich.

Am nächsten Tag geht’s von unserem Camping am Parkplatz des Baro Hotel (75 Birr, 3 Euro/ Pers.) mit dem Lada-Taxi aus dem letzten Jahrhundert äusserst abenteuerlich erst zur St.George Cathedral und danach zum Ethnologischen Museum. Keines der acht Taxis, die wir insgesamt in Addis benutzten, hat funktioniert: aus zweien mussten wir nach 50 Metern wieder aussteigen (wollten trotz vorausschauendem oben-am-Berg-Parken beharrlich nicht anspringen - auch nicht bei rollenden 50 Km/h); zwei wurden während der Fahrt wild schimpfend mit diversen Kreuz- und Schlitz-Schraubenziehern repariert; eines gab bei 60 Km/H auf der Überholspur den Motorlöffel ab; ein anderes wurde inmitten der Kreuzung unter Hupkonzert mit Klopapier und vielschichtigen Werkzeugen repariert, da der Vergaser abgesoffen war; beim nächsten konnten die hinteren Türen nicht mehr geschlossen werden, bei keinem waren die Fenster zu bewegen, jedes hatte grobe Schwierigkeiten mit den Bremsen; aber bei allen, ausschliesslich allen funktionierte das Wichtigste überhaupt: die Hupe!

Das Ethnologische Museum (50 Birr/ 2 Euro) war sehr informativ; Stämme, Traditionen, Handwerk, Schmuck, Jagd und das Alltagsleben der verschiedenen Kulturen Äthiopiens wurde mithilfe von Schaukästen und Video-Installationen erklärt. Beim anschliessenden Lauf ins Cottage Restaurant & Pub (butterweiche, superleckere Tournidos vom Rind in samtweicher Rotwein-Sauce mit Potatoes und Vegetables für 69 Birr) fällt auf, wie hilfsbereit, auskunftsfreudig, gebildet (Schulbildung inkl. Universität ist kostenlos), sympathisch und humorig die Äthiopier drauf sind!

PS: Im Addis-4-Tage-Essenstest waren Rind-, Huhn-, Lamm-, Ziegen- und Fischgerichte vertreten, ausserdem vegetarische Curries, diverse Nudel-, Kartoffel- und Reisgerichte, Fisch- und Cheeseburger.

Das glasklare Gesamtergebnis: Note Eins Plus mit Stern und gekritzeltem „weiter so!".

ADDIS ABABA

Mittwoch, 08.12.2013

GIVE-me-my-enjera

Ich geb´s ja zu: vielleicht starre ich ein bisschen zu neugierig auf den Tisch hinter mir. Da liegt nämlich ein groß ausgebreitetes, lecker glänzendes helles Enjera auf dem Tisch. Ähnelt der Farbpalette eines Pfannkuchens von Zuhause. Zwar war die erste Enjera-Erfahrung etwas negativ, aber das Jinka-Tischtuch sah auch ganz anders aus. Irgendwie dunkler, poröser und auf jeden Fall einen halben Zentimeter dicker. Vielleicht war´s ja kaputt?

Während mir diese weltbewegenden Gedanken durch den Kopf schiessen, gemischt mit einem „Vielleicht sollte ich es doch noch mal probieren", hebe ich den Blick und treffe auf kugelrunde helle Haselnuss-Augen, darunter blitzeweisse Zähne in einem wunderschönen arabischen Gesicht, das mich unverhohlen breit anlächelt. Ein 25-jähriges Mädchen im grünen Wollkleid formt mit den voluminösen Lippen ein „Selam“ (Servus) und bedeutet mir liebenswürdig, an ihren Tisch zu kommen. Sofia und ihr Bruder gönnen sich hier im „Raizel“ ein vegetarisches „Kai Wat“, und, wie sie mir erklärt, es ist das „Beste ganz Äthiopiens!“. Das Geschwisterpaar besteht auf einer Kostprobe. „Really! You MUST try!“. Etwas schüchtern will ich mich zurückziehen, will ja nicht mit meinen Fingern in ihrem Essen rumfuhrwerken, doch die beiden sind kurz davor, einen Schmollmund zu ziehen und wirken fast beleidigt, als ich wieder abziehen will.

„Please! Try! Here“, sagt die schöne Sofia „I show you how to eat“. Sagt´s und nimmt mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ein kleines Stückchen vom großen Enjera in die Hand, zupft etwas davon ab, und benutzt den Teig als Schaufel und Zange für die Soße. Davon ist auch noch reichlich da: in einem schwarzen Steingefäß blubbert die nämlich kochend heiß und Curry-orange schimmernd vor sich hin. „Yammie!“, schlemmt Sofia, „and now you!“. Zusammen mit Ghez, ihrem Bruder gucken mich die Beiden verheissungsvoll an, ich tue es Sofia nach, benutze die rechte Hand, nehme ein kleines Stück, baggere die Soße drauf und stecke es mir in den Mund.

Eine ganze Gewürz-Explosion findet sofort dort statt, scharfe Chili-Noten gemischt mit Ingwer, Knoblauch, Curry und etlichen anderen Kompositions-Beigaben (später lese ich nach: bis zu 15 verschiedene Gewürze). Bin begeistert! Dieses Enjera ist viel leckerer, irgendwie fluffiger und nur ganz leicht säuerlich, was zusammen mit der Sauce ziemlich großartig auf meiner Zunge kommt. „Mhmhmh“, stimme ich ein, und schmatze ein murmelndes „that´s delicious!“. Sofia klatscht in die Hände, Ghez lacht und nickt und beide freuen sich, als hätten sie Eintrittskarten für ein Konzert von Beyoncé gewonnen. Sofort winken sie dem Kellner, murmeln aufgeregt in Amharic. Ich bedanke mich herzlich und setze mich zurück an unseren Tisch, wo gerade die Getränke gebracht werden.

Fünf Minuten später erscheint aus den Tiefen des Lokals ein Riesen-Enjera, das geradewegs auf mich zugeflogen kommt. Der Kellner stellt die Platte vor mir auf den Tisch, daneben kommt die dunkle Schale mit der blubbernden Soße. Irritiert blicke ich mich um. Sofia lacht breit, klatscht in die Hände und ruft fröhlich herüber: „Enjoy! You´re invited!“

Lalibela

Freitag, 10.02.2013

In Stein gehauene LEgenden
& traumhafte Erzengel

Schweren Feinschmecker-Herzens verlassen wir mit vollem Bauch und gültigen Visa die Stadt Richtung Lalibela. Wir wollen die berühmten in Stein gemeisselten Kirchen sehen. Happige 50 Dollar verlangt der Mensch am Eingang für eine Person! Im Lonely Planet von 2009 waren´s noch zehn! Nichts zu machen, alle Preise erhöht, der Bischof braucht neue Toyotas. Wir schlucken die bittere Pille, buchen einen Guide (150 Birr), versuchen die Kosten schnell zu verdrängen und uns lieber von der Saga der Steinkirchen verzaubern zu lassen:

Die märchenhafte Lalibela-Legende besagt nämlich, dass ein paar gutaussehende und mit großen Flügeln ausgestattete Engel vor rund 1000 Jahren einen vergifteten Mann an der Hand mit in den Himmel nahmen, wo sie ihm stolz eine fantastische aus Steinkirchen errichtete Stadt zeigten. Dann, so die Saga, schickte ihn der liebe Gott, der überraschend zum Stell-Dich-ein auftrat höchstpersönlich zurück auf die Erde mit einem sehr speziellen Bauuauftrag: errichte ein neues Jerusalem! Tja, krasse Aufgabe für den armen Mann. Mit derben Bauchkrämpfen schaffte er es trotzdem ein toxisch-fotografisches Gedächtnis zu bewahren, einen realistischen Bauplan zu entwerfen und auch noch genügend Leute aufzutreiben. Denn Gott, wie soll´s auch anders sein, hat sich den Richtigen gesucht: König Lalibela!

Nun stehen wir vor atemberaubenden Steinkirchen á la Jerusalem, die aus ganzen Monolithen gehauen wurden. Nicht nur eine oder zwei, nein, der König hat strebermäßig rangeklotzt: elf Kirchen wurden per Mini-Meissel in Stein gehauen und das ganze 23 Jahre lang. Im Schweisse des Angesichts von sagenhaften 40.000 Arbeitern. Da hat der König im 12./13. Jahrhundert ein strenges Regiment walten lassen Uns freut´s, wir wandeln von der beeindruckenden griechischer-Tempel-mäßigen „Bet Medhane Alem“ über die mit multiplen Dekorationen und mythischen Fresken versehene „Bet Maryam“ hin zur Arkaden-reichen „Bet Meskel“, ziehen brav elfmal die Schuhe aus und extrem viel Geschichte rein. Hier die Swastika (das Sonnenrad – nein, nicht das „Hitler-Nazi-Rad“, weil entgegengesetzte Richtung), dort das quadratische Malteserkreuz, hier die schwangere Jungfrau Maria, dort der genagelte Jesus. Detailgetreu eingearbeitet, verziert, Historie in Stein.

Unkorrigierbar. Ist einmal der Wurm drin, fällt die Kirche zusammen. Freistehende Säulen, schwungvolle Arkaden, spektakuläre Lichteinfälle, grobe, feine, gemeisselte, dekorierte Felsen. Nach einer Kirche die wie „Debreziner“ klingt und mich hungrig macht geht’s zu einem kleinen Wunder: St. Georg ist komplett versenkt, also in einen riesigen Stein gehauen und wirklich beeindruckend. Von oben erblickt man ein riesiges Malteser-Kreuz im Boden, das ist die herausgemeisselte Kirche! Zwischendrin machen wir Mittagspause, so viel Kultur und Schuhe-aus-und-anziehen machen mich noch hungriger. Zwar gibt’s keine Debreziner, dafür aber im „Blue Lal“ das leckerste Enjera bisher (60 Birr), sorry, Sofia. Ich bestelle ein „Mahabrawi“: auf der üblichen Waschlappen-Variante sind leckere Kleinigkeiten gerecht verteilt: in der Mitte gibt’s einen Lammschlegel, auf 12 Uhr Gyros Ethiopian, zwei Uhr besteht aus Chick-Peas-Mus, auf vier liegen Lamm-Rippchen, auf sieben Gyros mit Tomatenstücken, auf neun Chick-Peas-Mash und auf elf Uhr buttergelb glänzende Karotten und gekochte Kartoffeln. I like Enjera und werde noch zum Experten. Die Wirtin lädt mich auf einen himmlischen selbstgemachten Honey-Wine ein, der ein bisschen an süßen Cidre erinnert.

Um drei ruft uns der Guide wieder zur Pflicht und wir watscheln hinter ihm zur letzten Kirchengruppe, schlafende Priester vor gold bedruckten Endlos-Vorhängen, Gebete-murmelnde Menschen, viele religiöse Gemälde und komplett ausgehöhlte Steinkirchen. Nach unzähligen Designs, vielen Teppichen, etlichen Bänken und dem skurrilen „Walk to Hell“, einem komplett dunklen Tunnel, in dem ich mich sieben Minuten lang an der rechten Seite entlangtaste, erreichen wir die letzte, und wie ich finde beeindruckendste Kirche: die „Bet Abba Libanos“, ein einzigartiger, in hellen Stein gemeisselter Altar, bei der sowohl Boden wie auch Dach noch mit dem Urgestein verbunden sind.

Angeblich wurde diese relativ kleine, aber unglaublich feine Kirche in einer einzigen Nacht von König Lalibela´s Frau konstruiert, war klar, allerdings mit ein bisschen Hilfe von fleissigen Engeln mit Architektur-Studium. Ein langer, ein toller, ein beeindruckender Tag. Ich muss ins Bett. Bin fertig. Müde. Gute Nacht.

Im anschliessenden pompösen Himmels-Traum veranstalte ich ein Bewerbungsgespräch mit realistischem Probe-Arbeiten von kräftig konkurrierenden Erz-Engeln mit Eins-A-Physio-Therapie-Ausbildung; die mit Fussreflexzonen-Erfahrung haben schon mal gewonnen...Gabriel, dich nehm ich, und Raffael, dich auch und du... - wie, ihr arbeitet nicht im Team?

Lake Tana

Mittwoch, 20.02.2013

Überlauf-Strategien

„AAH!“, im Schein der Taschenlampe blitzen mich Georgs Augen vorwurfsvoll an. Klitzekleine Sterne leuchten auf uns herab, ein glühender Mond schwebt vollschlank dahinter und der Lake Tana schimmert vor einer dunklen Bergkette graublau auf. „AAH!“. Schatzi steht am Handwaschbecken am Camping nahe Gorgora und guckt mich verdutzt an.

Ich blicke ihm ins Gesicht und sehe, wie sich Selbiges leicht verzieht. Mh. Bin mir keiner Schuld bewusst. Ich überlege genauer, bin mir plötzlich nicht mehr sicher. Obwohl...? - NÖ! - Bin verwirrt. „AH! - Sag´ mal...AH - AU!“, entfleucht ihm da, er beugt sich hinunter und nimmt den Wasserhahn unter die Lupe. Hallo? Sprechen vielleicht? So mit Zunge und Lippen? Was´n los? Mir erscheinen Fragezeichen auf dem Hirn und sofort ich knipse meine Mini-Maglite mit leichtem Druck an. „Du“, sagt er da in die Stille hinein, „ich glaub mich hat grad was gebissen“. Da gleitet der gleissende Kegel meines kleinen Lichtwunders auf den Überlauf im Becken. Das kleine Loch dort.

„Ist da was?“. - „Das gibt’s doch nicht!“, sage ich und trete langsam näher. „Ja. Shit, ja!“. Ich sehe einen gürtelartig schimmernden rotbraunen drei-Zentimeter-Schwanz! Er wippt leicht, zuckt und dann verkrümelt sich der kleine Scheisser mit winzigen Krallen zurück in sein Loch. Verdammt, Skorpion! Georg wurde gestochen! Von einem Skorpion! Das fährt gerade Break-Dance in meinen Hirnwindungen. Skorpion! Georg gestochen. Bastard! - „Ah! Tut echt weh!“, flucht Schatz und ich halte ein letztes Mal auf das Loch im Porzellan, wo jetzt nur noch kleine Krallen zu sehen sind. Dann nichts mehr. Er ist weg. Verschwunden. Im Inneren. „Au! Scheisse!“. Ich beleuchte Georgs Finger und sehe – nichts! Kein Loch, kein Stich, keine Schwellung. Nichts. Ich kann es nicht fassen.

Wir gehen zum Auto, ich sage „Setz dich“, und „bleib´ ruhig. Weisst schon, wie bei Schlangen, versuch, den Puls ruhig zu halten, dass sich das Gift nicht so reinpumpt“ und öffne routiniert das erste Schränkchen unten rechts, hole den Beutel mit Medikamenten heraus. Gleich oben liegt, was ich suche. Ich klicke zwei Pillen heraus. „Hier“, sage ich und halte ihm zwei kleine weisse Tabletten hin, „das sind die Cetrizitin, nimm´ die gleich mal, Antihystamine können nicht schaden“ und dann krame ich in der „Bibliothek“ nach dem Schlaubi-Handbuch „Wo es keinen Arzt gibt“ vom ReiseKnowHow-Verlag.

Mh. Halt, unterbreche ich mich, Eis vielleicht. Kühlen ist immer gut. Ich öffne den Kühlschrank und switche durch...Cola-Dose, nö, zu hart, Butter, nö, Prosecco, nö, wie der is da noch drin? Gurke, nö, Weinflasche, nö, aber für später, Milchbeutel. Hey, gut, Milchbeutel! Legt sich schön rum, is kalt, super. Ich nehme die Bag und reiche sie Georg. Wortlos legt er sie auf den Finger. Zurück zum Buch...ich blättere...Übersicht...äh...Stichwort....ah, da,...Gift-und Stacheltiere: An Land, ok, mein Finger folgt der gepunkteten Linie...Seite...320. Ich schlage auf: „Skorpione kommen in allen subtropischen und tropischen Gegenden vor...jaaa, wissen wir... Sie sind nachtaktive Tiere, die sich tagsüber zwischen Steinen, Blättern oder im Sand aufhalten...ne, im Waschbecken! Naja...blabla...wo ist der verdammte Punkt, WAS TUN? - ich überfliege die nächsten Zeilen, während Schatzi seine Hand ungläubig hin und herdreht und flüstert, mehr zu sich selber als zu mir „Keine Schwellung. Nichts!“. Ich rase weiter im Text, „Die meisten Arten verursachen ungefährliche Stiche, die ähnliche Beschwerden wie Bienen- oder Wespenstiche hervorrufen, bei den giftigeren Arten kommt es zu starkem Schmerz...“, da ertönt ein „Au...jetzt tut´s aber echt scheissweh. Mann! Das kriecht mir gerade so den Arm rauf. Wird alles taub irgendwie. Das wandert hoch! Am Handgelenk ist´s schon vorbei“.

Ich krame im weichen Leder-Beutel...Magnesium, nö, Blasenpflaster, nö, Klammerpflaster, nö, Fingerpflaster, nö, mann wieviel Pflaster haben wir denn eigentlich?, Betaisodona, nö, Durchfallpillen, nö, Asthmaspray, vielleicht, Druckverband, nö, Novalgin, Tramal, Desinfektion, nein, verdammt, nein, Halspastillen, nö, Aidshandschuhe, sterile Nadeln, Paspertin, nö, wirklich nicht, Augensalbe, Nasenspray, verdammt, was ist denn da noch alles drin? - Ich wühle, Cremes fliegen hoch, Fläschchen und Blisterstreifen türmen sich neben mir, Skalpell... hm... Fieberthermometer, Kompressen, Nadel, Faden, nö, nö, nö, Cortisoncreme, vielleicht, Fenistil, auch gut, und halte ihm schlussendlich triumphierend eine Ibo 400 zusammen mit einem Glas Wasser hin. „Nimm´s! Schmerztablette!“.

Brav schluckt Georg die Tabletten und ich lese beunruhigt aber konzentriert weiter „ ...kommt es zu starkem Schmerz,“, halt da war ich ja schon, und weiter „Taubheit des betreffenden Körperteils, in seltenen Fällen treten Muskelkrämpfe, Atembeschwerden und Herzrasen hinzu. Die Unterscheidung hinsichtlich der Gefährlichkeit ist für einen Laien völlig unmöglich (1500 verschiedene Arten), sodass nach jedem Stich Vorsicht geboten ist.“ - Ach!, ich schaue besorgt zu Schatzi, der etwas blass in der Ecke sitzt. „Tut´s weh?“, frage ich mitleidsvoll. „Ja, ultra!“, erwidert der und starrt kopfschüttelnd auf seine Hand. „Ich glaub, du legst dich jetzt mal hin, ja! Ins Bett!“. Schatz verschwindet wie geheissen. Kann der nicht immer so sein? So brav. So folgsam. So „machichwasdusagst“. Gefällt mir, doch keine Zeit jetzt für weitere Gedankenspiele, „Vielleicht ein Kissen?“, fällt mir ein „Kannst die Hand ein bisschen hochhalten, dann pumpt´s nicht so...“, ich versorge den mittlerweile recht bleichen Georg mit gefalteten Decken und Kopfkissen und kehre zurück zum Kapitel.

Für manche Arten existieren Anti-Sera, allerdings ist deren Wirksamkeit nicht gesichert. Die Stiche mancher Skorpionarten können noch nach Monaten Gefühlsstörungen hervorrufen“. Oha. Endlich geht’s zur Medikation... „Ruhigstellen des gebissenen Körperteils (Hey! Gut!), man gebe Antihistamintabletten (Treffer!) und Schmerzmittel (Heyhey!). Arzt aufsuchen (schwer, keiner da), dabei möglichst Beschreibung des Skorpions hinsichtlich Größe und Farbe (6 Zentimeter, braunrot).

Bin froh, richtig erstversorgt zu haben und sonne mich gerade in meiner medizinischen Weisheit, als Georg flucht. „Fuck, jetzt ziehts aber, du!“ und wieder auf den Finger starrt. Keine Schwellung, keine Rötung. „Versuch´ zu schlafen!“, raune ich ihm zu, streiche über seinen Kopf und gehe erstmal raus, unter die klare Sternen-Nacht, atme durch und schaue wieder in den Himmel. Boah, Scheisse! Hoffentlich ist das kein Giftiger! Bei Tim und Kim oben im Restaurant nachgefragt, beruhigen uns die Niederländer ein wenig, „hatten wir auch schon. Jeder einmal. Tut höllisch weh. 18 Stunden..bei Tim ...Kim so um die zwölf...echt schlimme Schmerzen...wird ziemlich taub...wird er schon überleben!“.

Mh. Ich kehre ich zum Auto zurück, Georg liegt oben. „Schatz?“. Nichts. „Schatz?“, ich hechte hoch, halte meine Hand über seinen Mund. Fühle warme Luft austreten. Ah, gut. „Schatz? - Hallo? Alles gut? Wie geht’s dir?“, nach einer Ewigkeit kommt nach kurzem Schnapper und „willst du mich erwürgen?“ ein gemurmeltes „Ja, geht schon. Kribbelt ultra, is taub und zieht wie bekloppt bis in die Schulter!“. - Bin beruhigt über die ausführliche Antwort. Atmet, spricht, lebt. „Versuch zu schlafen“ , raune ich. „Hab ich ja schon.“. „OH. Sorry.“

Ich lege mich dazu. „Vielleicht noch ne Ibuprofen? Kannst ruhig noch mal ne 400er nehmen!“, schlage ich vor. „Hallo?“ - „Ich schlafe schon.“ - „OH.“. Während der Nacht kann ich kein Auge zutun. Ich halte meine Hand im Stundenabstand vor Georgs Mund. Ok. Luftbewegung da. Da wacht er auf „Was machst´n du?“ - „Och, nichts.“

Der Morgen kommt und Schatzi ist immer noch am Leben. Dafür bin ich jetzt im Eimer. „Guten Morgen!“. „Morgen“. „Wie geht’s dir?“. „Naja. Tut immer noch scheissweh. Und zieht. Und is taub. Aber sonst ganz gut.“ Zum Glück. Das Ärgste ist überstanden. Ich leg mich dann mal hin...

Gonder

Mittwoch, 20.02.2013

das camelot von afrika

Steven King war bestimmt schon in Gonder. Dürfte ganz nach seinem Geschmack sein. Deftige Horrorschinken stecken hinter den dunklen Mauern und gewaltigen Fantasy-Palästen, blutgetränkte Stories um Macht und Moneten. Wir stehen miniklein und unschuldig vor der wahren Version der Legende von Camelot. Imperator Fasiladas kürte Gonder im 15. Jahrhundert rum zu seiner Hauptstadt, weil er a) scharf auf Bodenschätze und Sklaven war (Südwesten), b) seine Schifferl vom Roten Meer aus recht schnell lospaddeln konnten (Nordosten) und c) die Businesspartner Sudan und Ägypten ums Eck lagen (Nordwesten)

Liebe hin, Kriege her, böse Schlachten, Königinnen erheiternde Löwenspiele, gut und böse. Mittelalter halt. Nun im 21. Jahrhundert flanieren wir mit königlichem Schritt durch die blutbeträufelten Barbie-Welt-Paläste, vorbei an winzigen vergittert-verrosteten Löwenkäfigen, massiven Stallungen und großartigen Thermalbädern hin zur rustikalen Dining-Hall á la Ronja Räubertochter. Beim Heimlauf treffen wir am Straßen-Cafe auf den Enjera-schlemmenden Benjamin, bei dem wir im Belegaz-Hostel (81 Birr) äthiopisches Geld in Sudanesische Pfund gewechselt hatten. „Come! Come here, my friends“. Wir begrüssen ihn mit dem äthiopischen „drei mal jeweils die rechte Schulter“-Berühren - und schon wieder werden wir eingeladen, sitzen sogleich inmitten äthiopischer Neu-Freunde bei der Coffee-Ceremony. Zeitintensiv kann ich da nur sagen - aber schön: auf glühenden Kohlen wird langsam Wasser erhitzt und aufgekocht, haufenweise Cafepulver in die schmucke Tonkanne gelöffelt, das Ganze nochmal aufgekocht, ziehengelassen, serviert.

Daina bringt elfengleich balancierend und Waris-Dirrie-schön ein Elle-Deco-Tablett mit grün ausgebreiteten Grashalmen und einer stylischen Rustica-wir-liebens-simpel-Kanne mit fünf Trinkschalen heraus, giesst den Café in Zen-Manier ab, wobei der Mindestabstand von Schale zu Kanne offensichtlich keinesfalls unter 25 Zentimeter fallen darf. Anschliessend kredenzt sie uns drei Schalen. Das ist Pflicht!

Etwas zittrig verabschieden wir uns, Wahnsinn, der Cafe schiebt mich ganz schön, diesmal die Straße hinauf, und das ultraschnell, denn auf dem Sight-Seeing-Post-It steht: Debre Berhan Selassie Church. Ein orthodoxer Priester im weissen Kaftan und gewickelten Turban schliesst uns auf – umwerfend! Nicht aufgrund von Pomp, Gold oder Stuck, nein, gibt’s hier gar nicht. Debre Selassie glänzt durch Lieblichkeit, Kunst, Farben, Pracht im Detail. Ich betrete ehrfürchtig die Kirche und hefte meinen erstarrten Blick an die Wände, die sind nämlich rundherum bunt bemalt, kein Fitzelchen Mauer ausgelassen, da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Religiöse Bilder im Comic-Style: das letzte Abendmahl, Maria und Josef, die flammende Hölle mit hämischem Teufel inmitten lodernder Flammen, äthiopische Heilige, Prophet Mohammed auf dem Kamel, große Märtyrer und muskulöse Erzengel. Das Tüpfelchen auf dem kleinen „i“ ist ohne Frage die famose Decke: senkrecht nach oben geglubscht gucken 137 Engelsgesichter milde lächelnd in artiger Reihe auf mich herab. Also, wenn ich jetzt richtig gezählt habe. Der damalige New-Age-Künstler Haile Meskel hat sich und seinen Pinsel da im 17. Jahrhundert mal so richtig gehen lassen, sagt mir der Reiseführer.

Dank dem Espresso-Einlauf werden die Bilder leider etwas unscharf, die Kamera hat ein Eigenleben, ich zittere immer noch wie Espenlaub und kann mir im Moment beim besten Willen nicht vorstellen, jemals wieder Cafe anzurühren, nein, nie, nie mehr! So trippeln wir mit schwitzenden Händen und klopfenden Herzen zurück zum Belegaz, kehren vorher noch am gegenüberliegenden Chef´s Restaurant ein und ich bestelle, na was wohl? Ja, klar, mein letztes Enjera! Diesmal mit Lamm, Brokkoli und Berbery-Soße...mhmh, her damit!

>> HIER GEHTS WEITER IM BERICHT VOM SUDAN...

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